Corona setzt Familien unter Druck

 „Wir haben jetzt 14 Monate Corona hinter uns“, sagt Marie-Theres Kastner, Diözesanvorsitzende der Katholischen Elternschaft Deutschland (KED) im Bistum Münster e.V. „Doch während wir uns im ersten Lockdown vor allem darüber unterhalten haben, was unsere Kinder alles an Unterrichtsinhalten verpassen, haben sich die Fragestellungen mittlerweile doch wesentlich geändert“, so Kastner weiter. „Was macht Corona mit uns, mit unseren Kindern? Was macht das mit den Eltern?“

Diese Fragen standen im Mittelpunkt der digitalen Infoveranstaltung „Seelische und soziale Folgen bei Kindern, Jugendlichen und ihren Familien durch die coronabedingten Schulschließungen“ der KED-Münster. Dr. Marius Janßen, leitender Psychologe der Familientagesklinik für Vorschulkinder am Universitätsklinikum Münster (UKM), berichtete den 100 interessierten Eltern, Lehrerinnen und Lehrern von seinem Beobachtungen im Klinikalltag und den Forschungsergebnissen einer Arbeitsgruppe am UKM, die sich mit der Thematik rund um Corona und dessen Auswirkungen beschäftigt hat.   

„Wir mussten feststellen, dass der familiäre Stress sehr stark zugenommen hat“, erklärte Janßen zu Beginn seines Vortrags. Fast 25 Prozent der Hilfesuchenden befanden sich schon in einem klinisch auffälligen Bereich. Das ist enorm. Normalerweise sind es zwischen zwei und fünf Prozent.“ Der familiäre Stress hat zugenommen. Aus verschiedenen Gründen: So hätten Eltern berichtet, dass sie sich weniger kompetent bei der Erziehung erleben würden, sich Unsicherheiten zeigten im Umgang mit ihren Kindern. „Diese Situation hat bei den Eltern dann zu psychischen Symptomen geführt, wie Depressionen, Hoffnungslosigkeit und Frustration. Die tiefgreifenden Veränderungen im Alltag als Folge des Lockdowns lösten Stress-Symptome aus.“ Nervösen Zittern, Magenkrämpfen und erhöhter Blutdruck seien dessen körperliche Anzeichen.

Kinder ticken da anders. „Wir wissen aus der Gesundheitsforschung, dass es Kinder gibt, die über eine höhere psychische Widerstandsfähigkeit verfügen und sich im Allgemeinen an solche Ausnahmesituationen besser anpassen können. Man kann also nicht per se sagen, dass alle jetzt psychisch auffälliger sind.“ Auch wenn Janßen merke, dass vermehrt Kinder in die Klinik kommen würden, die unter den sozialen Einschränkungen sehr leiden.

Der Sport spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Als der Vereinssport im Zuge der Corona-Maßnahmen mit als erstes eingestellt wurde, „haben wir eine Zunahme an psychischen Störungen, wie Depressionen, festgestellt“. Dass sei nicht verwunderlich, da „man weiß, dass die Aktivität eine Grundvoraussetzung dafür ist, nicht depressiv zu werden – gerade bei Kindern und Jugendlichen“, betonte der Diplom-Psychologe.

Ein weiterer wichtiger Punkt seien die sozialen Bindungen. „Wir sind soziale Wesen. Es gibt kaum etwas Wichtigeres für uns als unsere sozialen Beziehungen, unsere Gemeinschaft. Das ist der Kit, der alles für uns zusammenhält. Uns in der Gemeinschaft mit anderen Menschen zu erfahren ist etwas ganz tiefgreifend Definierendes für uns, formt unsere Identität. Und ausgerechnet das wird jetzt auf den Prüfstand gestellt.“ Wie kann also soziale Unterstützung jetzt funktionieren? Wie können wir trotz sozialer Distanzierung weiter miteinander in Kontakt bleiben?  

 „Wir motivieren Eltern sehr dazu, das mit den Digital-Konferenzen einmal auszuprobieren, auch bei jüngeren Kindern“, betont Janßen. „Und wenn es noch so kurz ist, hat jedes Treffen etwas von ´sozialer Nahrung`, die wir einfach brauchen. Auch noch so kleine Portionen sozialer Nahrung sind immens wichtig und sorgen im Alltag dafür, dass wir gestärkt und positiv gestimmt durchs Leben gehen.“ Und was für die Großen gilt, gilt erst recht für die Kleinen.

Eine teilnehmende Mutter von zwei Kindern erzählte begeistert, dass sie einen Geburtstag online gefeiert hätten: „Das geht auch, auch wenn es etwas schwieriger und aufwendiger zu organisieren war. Und dafür, dass kein Kind hier persönlich vor Ort war, war er ganz schön teuer“, berichtete sie lachend. „Aber die Kinder haben sich wahnsinnig gefreut und das war das wichtigste.“

Corona wirbelt gerade alles durcheinander. Familiäre Routinen geraten ins Wanken. „Vielleicht lässt sich die bisherige Tagesstruktur angesichts von Homeoffice und Homeschooling so nicht mehr aufrechterhalten. Dann muss man jetzt schauen, wie sich möglicherweise neue Rituale finden lassen“, brach Janßen eine Lanze für neue Wege: „Wie schaffen wir es, in diesem Alltag neue Rituale zu etablieren, mit denen wir uns wohlfühlen und wir spüren, dass die uns als Familie Halt geben. Wir sind, ganz allgemein gesprochen, psychisch so organisiert, dass uns Routinen und Rituale helfen, um alles das, was wir tagsüber erleben, besser bewältigen zu können. Wenn uns langfristig Unvorhersehbares widerfährt, dann haben wir zu wenig Ressourcen, um dieses zu verarbeiten.“ In Ritualen und Routinen läge eine nicht zu unterschätzende Kraft, die gerade jetzt sehr hilfreich sein könne. Sie geben Halt. „Und neue Rituale sind dann im Ergebnis mehr wert, als den Anspruch zu haben, einen Großteil des alten Alltags unbedingt aufrechterhalten zu wollen.“
In Bezug auf die Schule betonte Janßen dessen soziale Funktion. „Die Schule ist mehr als ein Lernort. Sie ist ein sozialer Ort. Dort haben sie ihre Peergroup mit ihrer ganz eigenen Sprache, ihren eigenen Ritualen. Einen Rahmen, in dem sie sich unter Gleichaltrigen austauschen können.“ Im Homeschooling haben die Kinder und Jugendlichen gerade wenig Möglichkeiten, ihre Peergroup zu treffen. „Aber dabei ist gerade das in der Entwicklung in dem Alter so entscheidend.“

Es gebe das starke Bedürfnis, miteinander in Kontakt zu kommen und Janßen sieht die Schule in der Pflicht, regelmäßig Räume zu öffnen oder Formate dafür schaffen, in denen sich die Schülerinnen und Schüler fern des Lernstoffs austauschen, ihre Erlebnisse und Gefühle miteinander teilen können. „Das ´Miteinander-teilen` können, ist etwas, das Kraft geben kann. Kinder und Jugendliche haben ihre eigene Art, sich wahrzunehmen. Das ist ein wichtiger Teil der psychischen Verarbeitung.“

Und den Eltern schrieb er ins Stammbuch, ihre Rolle im Rahmen des Homeschooling zu überdenken. „Es ist nun einmal so, dass wir keine Lehrer sind und auch nicht sein wollen. Die jetzige Situation, dass die Eltern zuhause den Stoff, den die Schulen vorgeben, zusammen mit ihren Kindern bewältigen müssen, kann dazu führen, dass ganz viel Stress in die Familie gelangt, worunter Eltern und Kinder durchaus sehr leiden.“

Das bestätigte ein Vater, dessen drei Kinder sich im Homeschooling befinden. „Den Kinder immer wieder zu sagen: Tu mal lieber was für die Schule! Das ist ein echter Beziehungskiller. Das habe ich wirklich als extrem wahrgenommen.“ Janßen rät den Eltern, den Schulen Rückmeldungen darüber zu geben, wie sie das Lernpensum wahrnehmen. Ob es zu viel Stoff ist, den die Schüler und Schülerinnen aufbekommen oder gerade noch zu bewältigen. „Weil es sonst zu einer heillosen Überforderung auf allen Seiten kommt. Das erleben wir teilweise schon recht stark“, berichtete er aus seinem Klinikalltag. „Eltern nehmen es sich sehr zu Herzen, den Anforderungen und Erwartungen zu genügen. Das hat schon zu erheblichem seelischen Leid geführt.“ Abschließend riet er allen Eltern, „ein bisschen gelassener zu sein. Sie müssen nicht alle Erwartungen erfüllen. Melden Sie es der Schule zurück, wenn es zu viel wird. Das gehört zu einer Pandemie eben auch dazu.“ Einzutreten für die eigenen Belange, bevor der vermeintliche Erwartungsdruck zu einer Belastung wird.

Hinweis: Weitere Veranstaltung am 10. Mai

Aufgrund des großen Interesses bietet die KED-Münster am 10. Mai von 19.30 Uhr bis 21.00 Uhr eine zweite digitale Infoveranstaltung zum Thema „Seelische und soziale Folgen bei Kindern, Jugendlichen und ihren Familien durch die coronabedingten Schulschließungen“ mit Dr. Marius Janßen, leitender Psychologe der Familientagesklinik für Vorschulkinder am Universitätsklinikum Münster, an.
Es wird gebeten, sich per Mail (info@ked-muenster.de) anzumelden.

 

Foto: unsplash.com Scott Graham