„Ich war zu dem Zeitpunkt Englisch-Lehrer der siebten Klasse und begrüßte meine Schüler, wie man das als Englischlehrer so macht: Hello everybody. How are you? Good morning. Und dann meldet sich ein Schüler und sagt: Beschissen, Herr Bertram. Ich hab´ keinen Bock mehr auf diesen Video-Unterricht. Ich will in die Schule. Mir reicht das hier komplett“, erzählt Ulrich Bertram, Leiter der Bischöflichen Friedensschule, in der digitalen Infoveranstaltung „Corona und seine Folgen – Wie finden alle wieder zurück in ein ‚normales‘ Schulleben?“, die die Katholische Elternschaft im Bistum Münster (KED) e.V. durchgeführt hat.
„Für uns alle im Kollegium war klar, unsere Kinder brauchen auch und gerade in Corona so viel Normalität und so viel Alltag wie möglich“, bringt es Bertram auf den Punkt. Denn dies sei die Voraussetzung dafür, dass Bildung passieren könne. „Damit wir Unterricht machen können, braucht es Rahmenbedingungen, bei denen die Kinder sagen ´Ja, das ist Schule, wie ich es kenne und wo ich mich wohlfühle`.“ Deshalb sei die Schulkantine auch so schnell wie möglich wieder geöffnet worden, „um einen Ort zu haben, an dem die Schüler essen, sich treffen, spielen oder kickern konnten“.
„Wenn Corona eines gezeigt hat, dann, dass Schule eben mehr ist, als Wissensvermittlung“, sagt Marie-Theres Kastner, Diözesanvorsitzende der KED im Bistum Münster, zu den über 55 Teilnehmenden der Veranstaltung. „Und wir wollen uns heute in besonderer Weise um die Schüler kümmern, die nicht nur Defizite im Lesen, Schreiben und Rechnen haben, sondern die in ihrem Verhalten Auffälligkeiten aufweisen.“
„So grundlegende Sachen wie Rücksichtnahme und Verständnis für andere, die Erkenntnis, dass ich nicht immer im Mittelpunkt stehen kann, das sind alles Sachen, die wir bei unserem fünften Jahrgang anpacken müssen“, greift Bertram Kastners Anmerkungen auf. Dinge, die im Sozialverhalten eigentlich selbstverständlich seien, gingen einigen Schülern ab. Der Schulleiter führt dieses Defizit auf den Distanzunterricht zurück, in dem die Schüler vor dem Rechner anstatt in der Klassengemeinschaft gesessen hätten. „Teambuilding-Maßnahmen sind nun angesagt.“
„Die Schüler müssen auch das Lernen wieder lernen“, ergänzt Carmen Greefrath, stellv. Leiterin der Hauptschule Hiltrup. „Im Distanz-Unterricht haben wir die Schülerfragen schnell beantwortet, anstatt sie selber zum Nachdenken anzuregen, so dass sie weniger selbst erarbeitet haben und dass jetzt zum Teil nicht mehr richtig können.“ Das müsse aufgefangen werden. Bevor es wieder ans Lernen geht müsse geklärt werden: Wie lernen wir eigentlich? Wie organisiere ich mich? „Da müssen wir jetzt einfach ein bisschen Zeit investieren, um diese Defizite aufzuarbeiten.“
Positiv betonte Greefrath, dass durch Corona die Schulen im „digitalen Zeitalter angekommen sind. Wir haben innerhalb von zwei Jahren einen Sprung gemacht, den es ohne Corona nicht gegeben hätte“. Was die Infrastruktur angehe, aber auch, was das Lernen an sich betreffe. „Wenn die Schüler in Mathe etwas nicht verstanden haben, haben sie sich auf youtube ´Lehrerschmidt` angeschaut. Da gibt es kurze Filmchen zu den Themen, die kann ich anhalten und es mir auch nochmal anschauen.“ Es sei ja nicht so, dass die Schüler jetzt auf einmal gar nicht mehr lernen. „Nur anders.“ Die Schüler hätten für sich andere Lernstrategien gefunden. „Da müssen wir jetzt schauen, wie wir das unter einen Hut bekommen. Vielleicht kann man ja selber solche Videos im Unterricht drehen.“ Auf jeden Fall habe Corona auch neue Wege aufgezeigt.
Das von Bertram beschriebene Fehlen der Normalität „hat enorme Auswirkungen auf die Kinder gehabt“, erklärt Diplom-Psychologin Marisa Kube, Leiterin der schulpsychologischen Beratungsstelle der Stadt Münster. Die Kinder hätten während der Lockdowns teilweise keine Tagesstruktur mehr gehabt. „Ich habe erlebt, dass Kinder bis 3 Uhr nachts gezockt und dann tagsüber ausgeschlafen haben, beziehungsweise den Rechner angeworfen und irgendwie am Unterricht teilgenommen haben.“ Da gelte es nun, zurück zu einem geregelten Alltag zu finden. Gleichzeitig war ein signifikanter Anstieg an psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten. „In der Regel erkranken 20 Prozent innerhalb eines Jahres an einer psychischen Störung. In Corona waren es ein Drittel.“ Wobei das nicht heiße, alle bräuchten weitere psychologische Unterstützung. „Aber die Kinder und Jugendlichen erklärten, dass sie unter einem großen Leidensdruck stehen.“
Die häufigsten Störungen, die aufträten, seien Angststörungen, depressive Störungen und hyperkinetischen Störungen. „Also das das, was man unter ADHS und ADS kennt und dissoziale Störungen, wenn Störungen im Sozialverhalten auftreten, wie Herr Bertram ja bei einigen Schülern beobachtet hat.“ Gleichzeitig betonte Kube, wie wichtig in diesem Zusammenhang Schule sei, um Kinder und Jugendliche zu stärken. „Indem ich Betroffenen aufzeige, dass es Bereiche gibt, in denen sie wirklich gut sind und etwas erreichen können. Oder ihnen vor Augen führe, welche Fortschritte sie in den vergangene zwei Wochen gemacht haben, um die Kinder in ihrem Selbstbild positiv zu stärken.“
Auch sei es positiv hervorzuheben, dass die Schulen kreativ auf das Bedürfnis der Schüler nach Gemeinschaft reagiert und zum Beispiel Lerngruppen gebildet hätten, damit „die Schüler und Schülerinnen untereinander wenigstens wieder dieses Gemeinschaftsgefühl haben“. Was auch der Entwicklung einer Tagesstruktur positiv Rechnung trage. Grundsätzlich gelte es für Lehrende wie für Eltern, „Symptome der Kinder ernst zu nehmen, Gesprächsrahmen zu schaffen, ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Jugendlichen zu haben und zu signalisieren: Du bist nicht allein.“