Dipl.-Psych. Dr. Marius Janßen vom Universitätsklinikum Münster im Gespräch über Corona-Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche.
Katholische Elternschaft Deutschlands: Herr Janßen, im ersten Lockdown hatten viele noch das Gefühl einer Art Abenteuer zu erleben. Es wurden Plätzchen gebacken und „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt. Warum kommen die Kinder und Familien jetzt so schwer mit der Situation klar?
Marius Janßen: Wenn man mal überlegt, wie lange wir uns jetzt schon im Lockdown befinden, dann bedeutet das für einige Kinder im Kita-Alter, dass sie mittlerweile ein Viertel ihrer Lebenszeit in dieser pandemischen Situation erleben. Je länger diese Zeit der Beschränkungen andauert führt dies bei Kindern und Eltern zu einer Stressbelastung – auch wenn man rational weiß, dass der Lockdown gerade nötig ist.
Wie meinen Sie das?
Zuerst ist ein Neuheitseffekt da. Wir sind ganz aufgeregt und gespannt darauf, wie wir mit der neuen Situation umgehen, welche Erfahrungen wir miteinander sammeln werden. Nach und nach tritt aber eine gewisse Erschöpfung und Müdigkeit ein, die sich auch als psychische Belastung äußeren kann. Aus der Stressforschung weiß man, dass, je länger eine Krisensituation anhält, auch der Stressfaktor zunimmt. Wir können nicht dauerhaft die gleiche Begrenzung kompensieren. Wir können sie über eine gewisse Zeit adaptieren und probieren, uns anzupassen und Lösungen zu finden, aber wenn etwas lange anhält, dann setzt uns das immer mehr zu.
Das ist ja auch die Erfahrung, die die Eltern gerade machen. Sie merken, es ihren Kindern seelisch nicht gut geht. Wie erleben Sie das in Ihrer täglichen Arbeit also?
Wir machen die Erfahrung, dass sowohl die Eltern als auch die Kinder deutlich belasteter sind und einen höheren therapeutischen Bedarf haben. Man kann sich das wie einen Verstärker vorstellen: Wenn ohnehin schon Belastungen da sind und dann steigt über einen längeren Zeitraum der Stresslevel weiter an, dann wirkt sich das umso stärker auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden aus.
Wie ist das bei Kindern und Jugendlichen, die bis jetzt nicht auffällig geworden sind?
Wir wissen aus der Gesundheitsforschung, dass es Kinder gibt, die über eine höhere psychische Widerstandsfähigkeit verfügen und sich im Allgemeinen an solche Ausnahmesituationen besser anpassen können. Man kann also nicht per se sagen, dass alle jetzt psychisch auffälliger sind. Aber wir merken auch bei uns in der Klinik, dass vermehrt Kinder zu uns kommen, die unter den sozialen Einschränkungen sehr leiden.
Woran erkenne ich, dass mein Kind leidet?
Ein Anzeichen dafür, dass es Kindern und Jugendlichen schlecht geht, ist, dass sie sich zurückziehen und dass ihre Stimmung gedrückt ist. Wenn sie zudem Schlafstörungen entwickeln, Albträume bekommen und häufiger über Ängste berichten oder auch aggressiv werden, dann sind das typische Anzeichen und es wäre gut, sich Hilfe und Beratung zu holen.
Brauche ich gleich professionelle Hilfe?
Nein. Bevor ich jetzt professionelle Hilfe in Anspruch nehme, was ja eine gewisse Hürde darstellen kann, kann ich im ersten Schritt ein Telefonat mit dem Kinderarzt oder eine Beratung über Erziehungsberatungsstellen in Anspruch nehmen. Das kann einem im ersten Moment schon weiterhelfen. Vielleicht reicht es schon, an Stellschrauben zu drehen.
Was können Eltern oder auch Lehrer tun, um die Kinder zu stabilisieren und den Leidensdruck zu mindern?
Kinder und Jugendliche haben ein natürliches Bedürfnis danach, sich mitzuteilen. Verbal oder non-verbal. Als erstes gilt es aufmerksam zu sein und Veränderungen wahrzunehmen. Und es ist wichtig, einen Raum zu öffnen, in dem Kinder und Jugendliche von sich aus beginnen, das, was sie erleben und beobachten, anzusprechen. Das ist ein „psychisches Aufräumen“, eine Gelegenheit, die eigene Situation besser zu verstehen und auch emotional besser verarbeiten zu können. Eltern können natürlich auch proaktiv vorgehen und nachfragen. Dabei sollten sie aber auf „Warum-Fragen“ verzichten. Die erzeugen bei den Kindern unter Umständen Druck.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang eine Tagesstruktur?
Grundsätzlich ist eine Tagesstruktur wichtig. Wir sind, ganz allgemein gesprochen, psychisch so organisiert, dass uns Routinen und Rituale sehr helfen, um alles das, was wir tagsüber erleben, besser bewältigen zu können. Wenn uns langfristig Unvorhersehbares widerfährt, dann haben wir zu wenig Ressourcen, um dieses zu verarbeiten. In Ritualen und Routinen liegt eine nicht zu unterschätzende Kraft, die gerade jetzt sehr hilfreich sein kann. Sie geben uns Halt.
Die Familie ist jetzt 24/7 zusammen. Da greifen die alten Rituale nicht mehr, da der Tagesablauf komplett über den Haufen geworfen wurde. Was also tun?
Corona wirbelt gerade alles durcheinander. Vielleicht lässt sich die bisherige Struktur angesichts von Homeoffice und Homeschooling so nicht mehr aufrechterhalten. Dann muss man jetzt schauen, wie sich möglicherweise neue Rituale finden lassen: „Wie schaffen wir es, in diesem Alltag neue Umgangsformen oder Rituale zu etablieren, mit denen wir uns wohlfühlen und wir spüren, dass die uns als Familie Halt geben.“ Da kann es helfen, Zeiten für Familienaktivitäten, aber auch Freiräume festzulegen. Das ist dann im Ergebnis mehr wert, als den Anspruch zu haben, einen Großteil des alten Alltags unbedingt aufrechterhalten zu wollen.
Eltern können die Freunde nicht ersetzen, oder was sagen Sie?
Wir alle sind soziale Wesen. Wir brauchen den stetigen Austausch, auch um Rückmeldung über uns selbst zu bekommen und um uns weiterentwickeln zu können. Vor allem Kinder und Jugendliche haben ein sehr großes Bedürfnis danach, miteinander in sozialen Austausch zu gehen. Darüber erfahren Kinder, wer sie selber sind und sie lernen, sich selber in der Balance zu halten. Das läuft viel über gemeinsame Interaktionen ab, im unmittelbaren Austausch innerhalb ihrer Peergoup mit Gleichaltrigen. Sie brauchen ihr eigenes soziales Netz mit ihrer ganz eigenen Sprache, ihren eigenen Ritualen. Einen geschützten Rahmen, in dem sie sich unter Gleichaltrigen austauschen können.
Was kann ich als Elternteil tun, um dieses Bedürfnis zu befriedigen?
Sie können Freiräume schaffen. Kinder und Jugendliche sollten die Möglichkeiten, die es noch gibt sich zutreffen, auch nutzen. Und sei es, dass man mit einem Freund einen Spaziergang macht. Das hat übrigens auch rituellen Charakter: man sieht sich wieder, begrüßt sich, tauscht sich kurz aus. Auch wenn es noch so kurz ist, ist das alles soziale „Nahrung“, die wir einfach brauchen. Denn wie sich das Eichhörnchen mühsam ernährt, so sind auch kleine Portionen sozialer Nahrung wichtig und sorgen im Alltag dafür, dass wir gestärkt und positiv gestimmt durchs Leben gehen.
Das ist leichter gesagt als getan. Ich erlebe gerade, dass Kinder und Jugendliche vermehrt zur Konsole statt zu Sportschuhen greifen.
Es ist wichtig, darauf zu achten, dass sich nicht neue, ungünstige Verhaltensmuster einschleichen. Das ist ein Stück weit die Frage nach der sozialen Verwahrlosung, die jetzt potentiell zunehmen kann. Wenn Binge Watching, der übermäßige Serien-Konsum, oder das Spielen an der Konsole einen Großteil des Alltags bestimmt, dann sind die Eltern gefordert, das zu begrenzen und alternative Angebote zu schaffen. Lassen wir die neuen Verhaltensmuster durchgehen, kann das weitere Konsequenzen nach sich ziehen, die die Entwicklung von Störungen begünstigen können.
Was kann ich dagegen tun? Auch die Eltern befinden sich schließlich in einer Stress-Situation.
Es ist wichtig, dass wir uns insgesamt nicht aus den Augen verlieren und signalisieren: du musst da nicht alleine dadurch. Auch mir setzt das zu. Aber gemeinsam schaffen wir das. Wenn wir einander mitteilen, wie wir mit der Situation umgehen, kann uns das psychisch robuster machen und die Stressverarbeitung enorm unterstützen. Also das Gefühl zu vermitteln: du bist nicht allein.
Es ist absehbar, dass die Schulen wieder öffnen werden. Was kann ich als Lehrer tun, um die Schüler zu unterstützen?
Auf keinen Fall einfach so zur Tagesordnung überzugehen, wenn vorher etwas einschneidendes wie Lockdown und Pandemie passiert ist. Das ist nie gut. Die Schule ist ein sozialer Ort. Die Lehrerinnen und Lehrer können davon ausgehen, dass es einen großen Redebedarf gibt. Daher ist es gut, ein oder zwei Stunden für einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Das ist gut investierte Zeit. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Psychohygiene“. Das Erlebte einordnen und verarbeiten zu können, das ist schon sehr wichtig. Und das erreicht man dadurch, indem man den Dingen Raum gibt: „Ihr könnt erzählen, wie die Zeit für euch war. Was habt ihr erlebt? Was vermisst? Wie ist es euch in im Lockdown ergangen?“ Das reicht schon. Die Würdigung der Situation des einzelnen und auch der sozialen Gemeinschaft ist gut und richtig.
Kurz gesagt: einfach darüber reden?
Ja. Man muss schauen, dass man Formate findet, die signalisieren, dass man die Situation der Schüler sieht und versteht. Gleichzeitig ist es auch wichtig zu zeigen, dass das auch Grenzen hat und dass die Schüler das auch erkennen. Denn sonst kommen die Lehrer am Ende in eine schwierige Rolle. Daher ist es wichtig, den Weg zurück in die Schulstruktur zu finden und wieder in den Stoff reinzukommen, um dem Ganzen nicht zu viel Gewicht einzuräumen und zu überdramatisieren. Wenn man darüber hinaus feststellt, dass es bei einigen weiteren Redebedarf gibt, dann muss man vielleicht schauen, wer dafür zuständig ist. Das kann der Lehrkörper nicht leisten.
Raten Sie Lehrerinnen und Lehrern, ein waches Auge zu haben?
Lehrer haben allein schon durch ihre Rolle die Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler über längere Zeiträume zu erleben. Daher ist es gut, wenn Lehrer ein wachsames Auge haben und vielleicht auch gerade in der jetzigen Situation genauer hinschauen. Ist da vielleicht gerade jemand in meiner Klasse, den die Situation psychisch sehr belastet ist? Da wäre es dann gut, einmal nachzufragen. Mit aller Vorsicht. Es gilt die Balance zu halten zwischen originärem Auftrag und Fürsorgepflicht. Und dann gegebenenfalls Schulpsychologen oder Schulsozialberater zu Rate zu ziehen, die sich darum kümmern und weiter vermitteln können.