„Zu wenig Verantwortung schadet genauso, wie zu viel“

Dirk Dammann, Leiter der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Holzminden. (c) familienwerk.de

„Ein afrikanisches Sprichwort sagt, dass man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Es beschreibt damit, wie schwer es ist, ein Kind auf einen guten Weg ins Erwachsenenleben zu begleiten“, sagt Marie-Theres Kastner, Vorsitzende der Katholischen Elternschaft Deutschlands (KED) im Bistum Münster zu Beginn der digitalen Info-Veranstaltung „Alle dürfen das! Warum Grenzen wichtig sind." Der Abend beschäftigt sich mit der Frage, wie viele Grenzen, aber auch Freiräume Kinder brauchen.

„In den vergangenen 30, 40 Jahren hat sich in Deutschland eine Haltung entwickelt, in der wir uns als Eltern nichts sehnlicher wünschen, als dass unsere Kinder Einsicht zeigen, verstehen und durch die Einsicht ihr Verhalten ändern“, sagt Dirk Dammann, Leiter der Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Holzminden, zu Beginn seines Vortrags. „Und ja, das gibt es. Mit einem 16-, 17-Jährigenkönnen Sie ganz wunderbar diskutieren.“ So ab dem 13. Lebensjahr seien Kinder kognitiv in der Lage ein Gespräch zu führen. „Die verstehen, was wir sagen und ändern gegebenenfalls ihr Verhalten. Da drunter wird’s schwieriger.“

Das habe etwas mit der Hirnbiologie zu tun. „Stellen wir uns einen Säugling vor. Was wollen Sie mit einem sechs Monate alten Baby herumdiskutieren. Da sind Gestik und Mimik angesagt.“ Sobald Kinder aber verstünden, was die Eltern sagen, werde versucht, „frühzeitig hoch individuelle Kinder zu entwickeln, die hochautonom Entscheidungen für sich treffen.“ Da würden dann Fragen gestellt wie: Was möchtest du denn heute machen? Möchtest du lieber spielen oder mit Bauklötzen bauen? Oder möchtest du etwas malen? „Es mag Kinder geben, die das schon gut können, aber nicht alle können das gleichgut.

Und jetzt setz ich noch einen drauf. Jetzt stellen Sie sich bitte einmal vor, dass wir vierjähriges Kind, das aus der Türkei kommt, vor uns haben. In der Türkei kriegt das Kind beigebracht, dass die Eltern darüber entscheiden was für das Kind gut ist und was es tun soll.“ Während die Kinder aus deutschen Familien sich durch einen Frage- du Entscheidungsdschungel kämpften, warte das türkische Kind darauf, dass es gesagt bekommt, was es tun soll. „Eine offene Fragestellung überfordert es dann total.“ Auf der einen Seite werden starke Grenzen gezogen. Auf der anderen werden die Kinder zu Individualisten erzogen, die sich kaum noch einer Gruppe unterordnen können.

„Beides sind Extreme. Wir müssen uns die Frage stellen, wozu Grenzen da sind. Wir müssen als Erziehende den schmalen Grat finden zwischen dem ´Was braucht mein Kind?` und altersgemäßer Verantwortungsübertragung.“ Indem Eltern Entscheidungen für ihr Kind träfen, würden sie es entlasten und Druck nehmen. Es brauche nicht immer selber entscheiden, sondern wachse mit dem Gefühl auf, dass die Eltern schon die richtige Entscheidung treffen, da sie es gut mit einem meinen. „Drängen wir es dem Kind auf, eine Vielzahl an Entscheidungen, die wir ihnen sehr früh und wahrscheinlich gut gemeint überlassen, zu treffen, kann es die Situation überfordern. Das Mittel ist das Maß“, bringt es Dammann auf den Punkt: zu wenig Verantwortung schadet genauso, wie zu viel.